Bild und Gedächtnis

Mit Journeying 66 begibt sich Rosemarie Zens auf eine besondere Reise: es ist keine Nostalgie, die sie antreibt, der Faszination der Route 66 nach über 40 Jahren nochmals zu folgen. Sie lässt sich vielmehr auf ein Experiment ein, wenn sie sich auf die Suche nach Spuren der Erinnerung an ihre erste Reise im Jahr 1966 begibt. Heute hat sich die Route 66 zu einer Art Museum gewandelt, zu einem Sammelbecken der Mythen, die für ein kollektives Lebensgefühl der 1960er Jahre stehen.
Diese legendäre Straße ist zu einem Symbol für den Ruf nach Freiheit geworden. Auch wenn die gesellschaftlichen Verkrustungen dieser Zeit aufgebrochen worden sind, so wurden doch viele Ideale von der politischen Realität wieder eingeholt. Es wäre sehr einfach, mit einem ironischen, distanzierten Blick auf die Ikonen einer Generation mit utopischen Wunschvorstellungen zu schauen, aber das ist nicht das Interesse von Rosemarie Zens. Sie ist sich bewusst darüber, dass sie mit ihren Reisen in den amerikanischen Traum einer Illusion gefolgt ist. Herausgelöst aus den Bestimmungen des Alltags spürt sie eher dem Zustand des Unterwegssein selbst in existentialistischer Weise nach, damals wie heute.

Zens ist eine Grenzgängerin zwischen Fotografie und Literatur, und so waren es besonders die sozialkritischen Romane „Grapes of Wrath“ von John Steinbeck und „To Kill a Mockingbird“ von Harper Lee, die ihr den entscheidenden Impuls gaben, sich auf das Wagnis Amerika einzulassen. Die realistische Erzählweise, mit der Steinbeck das Leben der Farmer in Oklahoma während der Weltwirtschaftskrise beschrieb, als deren Lebensgrundlage durch jahrelange Dürre zerstört wurde, überzeugte sie. Ebenso das Bild der Trecks mit tausenden von Familien, die auf dem Weg nach Westen auf der Route 66 nach Kalifornien zogen, wo sie eine bessere Zukunft erhofften. Dies muss für sie als Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Pommern von besonderer Bedeutung gewesen sein. Ein dreimonatiger Trip durch Amerika im Jahr 1966 und ein einjähriger Aufenthalt als Lehrerin in Berkeley haben ihren Blick auf Amerika geprägt, zwischen einer Faszination für das Land und der Hoffnung auf bessere gesellschaftliche Verhältnisse.

Wie ist es möglich, diese so divergierenden Erfahrungen der 68er in einer Rekonstruktion der Reise im Jahr 2010 zu verarbeiten? Ist die Fotografie das Medium, mit dem das Konglomerat aus privaten Erinnerungen, gesellschaftlichen Ideologien und medialen Mythen dieser Zeit aufgelöst werden kann? Rosemarie Zens tat gut daran, sich auf den Prozess des Reisens selbst zu konzentrieren, die Bilder aufzunehmen, die ihr entgegenkamen. Die Ungeduld am Anfang der Reise, ein völlig neues Konzept finden zu müssen, um sich von allen anderen Fotografien abzusetzen, die on the road entstanden sind, ist einer Offenheit für die besonderen Momente gewichen, in der die äußere Welt und das innere Bild von ihr deckungsgleich werden. Dies entspricht der Haltung einer Street Photography, die allem Geplanten und Inszenierten gegenüber sehr skeptisch ist und nach einer Unmittelbarkeit im Erleben des Alltags sucht. Die Bilder sind detailreiche Schilderungen der Szenerien am Rande der Strasse, Landschaften, Rinderfarmen, Motels, Werbetafeln, Briefkästen, und immer wieder der ins Unendliche führende Asphalt der Route 66. Die Fotografien sind im dokumentarischen Stil aufgenommen und doch verstehen sie sich nicht als sachliche, objektive Beschreibungen.

Dies scheint ein Widerspruch zu sein, da wir speziell von deutschen Dokumentarfotografen einen anderen Anspruch gewöhnt sind. Eine „Neutralität“ des Lichts, der Perspektive und der seriellen Anordnung lässt jede subjektive Interpretation in den Hintergrund treten. Die Sachlichkeit ist bei diesem Verständnis des Dokumentarischen die absolute Maxime. Der Altmeister der amerikanischen Dokumentarfotografie, Walker Evans, hatte eine ganz andere Sicht auf das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit. Für ihn war die fotografische Aufnahme der höchstmögliche subjektive Ausdruck im Dialog mit der Außenwelt. Es war kein fest gefügtes Konzept, kein stringentes Ordnungssystem, dem er das Abgebildete unterworfen hat und gerade deshalb konnte er Dokumente über den amerikanischen Alltag schaffen, die bei aller analytischen Präzision auch eine Nähe zu dem Abgebildeten aufbauen konnte. Im Auftrag der Farm Security Administration fotografierte er die Notlage der amerikanischen Farmer während der Weltwirtschaftskrise im mittleren Westen.

Seine Aufnahmen beeinflussten auch Zens’ Bild von einem Amerika jenseits der schönen Mythen. Die Kenntnis all der fotografischen Vorbilder, die unsere Wahrnehmung einer von Menschen geprägten Landschaft geformt haben, kann aber auch eine Blockade verursachen, die keine eigenen Bilder mehr zulässt. Bewusst hat Rosemarie Zens in der Vorbereitung der Reise darauf verzichtet, in die Bilderwelten eines Stephen Shore, Robert Adams oder Robert Frank intensiv einzutauchen, damit der unmittelbare Blick nicht durch vorgefasste Visionen verstellt wird. Das permanente Unterwegssein und Fotografieren entwickelte eine eigene Dynamik, die ihr half, den Blick frei zu machen auf das für sie Wesentliche. Zens hatte sich ohne Begleitung auf diese Reise begeben und auch nur an drei Orten einen dreitägigen Aufenthalt eingelegt, in Santa Fe, im Grand Canyon Nationalpark und in Santa Monica. Die Konzentration auf den eigenen Zustand des Reisens ohne jegliche Ablenkung machte es ihr möglich, zu den Spuren und Formen der Erinnerung durchzudringen.

Menschen tauchen in ihren Fotografien nur selten auf und dann auch nur als Randfiguren. Es sind aber trotzdem „human landscapes“, die sie zeigt. In subtiler Form spiegelt sich die menschliche Kultur im Umgang mit dem Agrarland, in den oft sehr eigenwilligen architektonischen Gebilden, in der Omnipräsenz von Fahrzeugen jeglicher Art und in den Botschaften der Werbetafeln. Rosemarie Zens bewegt sich damit in der Tradition einer Landschaftsfotografie, wie sie in der legendären Ausstellung „New Topographics“ 1975 zum ersten Mal präsentiert wurde. Die jungen Fotografen der 1970er Jahre, darunter Henry Wessel, Lewis Baltz und Nicholas Nixon, distanzierten sich von einem erhabenen Blick auf eine unberührte Natur, wie ihn Ansel Adams sehr kunstvoll entwickelt hatte, und rückten dagegen die Alltagswelt in das Zentrum ihres Interesses.

Das spannungsvolle Verhältnis von Naturraum und menschlicher Zivilisation ist das Thema, das sich durch alle Arbeiten zieht. Der Verzicht auf Pathos in der Betrachtung der Landschaft bedeutet aber nicht, dass sich die Fotografen als neutrale Beobachter verstanden haben. Die meisten waren sich ihrer subjektiven Interpretation von gesellschaftlicher Wirklichkeit sehr bewusst. So widersprach Robert Adams dem Slogan der Ausstellungsmacher, dass die Fotografien ein objektives Bild der Welt zeigen. „Wo bleibt da meine eigene Biografie?“ war seine Erwiderung. Keine fotografische Arbeit kann losgelöst von dem subjektiven Schaffensprozess und seinen ästhetischen und erkenntnistheoretischen Kriterien gesehen werden. Das individuelle Interesse an bestimmten Situationen, Wertsetzungen und Wahrnehmungen ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung einer lebendigen fotografischen Handschrift. Nur aus einer selbst Schritt für Schritt erschlossenen Perspektive heraus kann Wirklichkeit bewusst in ein aussagekräftiges Bild umgesetzt werden. Die Vorstellung, mit Fotografien ein eindeutig interpretierbares realistisches Bild der Welt schaffen zu können, führt eher zu einer sachlichen Katalogisierung des Wahrgenommenen als zu einem spannungsvollen Prozess, der das persönliche Verhältnis zum Abgebildeten spürbar macht.

Die besondere Qualität der Arbeit Jouneying 66 von Rosemarie Zens liegt darin, eine schlüssige Form gefunden zu haben, die Suche nach den inneren Bildern eines Lebensgefühls der 1960er Jahre, einer Aufbruchstimmung, die entscheidend für ihren Lebensweg war, mit einem Blick auf das heutige Amerika entlang der Route 66 in Einklang zu bringen. Die Abfolge der Fotografien im Buch ist dabei von wesentlicher Bedeutung. Mit der rhythmischen Aneinanderreihung von weiten Sichten in beeindruckende Landschaften und verengten Blicken auf von Zeichen der Alltagswelt verstellte Orte erzeugt sie ein spannungsvolles Geflecht von Raum und Zeit. Sehr bewusst hat die Fotografin keinen linearen Erzählstrang der Bilder gewählt, da dies nicht ihrem Erleben der Reise entsprechen würde. Viel zu ambivalent sind ihre Empfindungen, um sie beim Editieren zu begradigen. Die immer wiederkehrenden Ansichten der zum Horizont führenden Route 66 erzeugen einen Sog, der ein Gefühl von Geschwindigkeit und Rastlosigkeit aufkommen lässt, während die Fotografien von Alltags-Stillleben am Wegesrand wie eine Entschleunigung wirken.

Ein Bild von Motorradfahrern, im Rückspiegel ihres Autos gesehen, bündelt die widersprüchlichen Erfahrungen zwischen Stillstand und Bewegung, Weite und Nähe, Zielfixiertheit und Desorientierung. Es ist eine vielschichtige Aufnahme mit mehreren Bildebenen, wie wir sie von Lee Friedlander kennen. Als kritischer Chronist des amerikanischen Alltags hatte dieser in den 1970er Jahren eine Bildsprache entwickelt, die das chaotische Geschehen in den Strassen, das komplexe Zusammenspiel von Körpern, Architektur, Objekten,Zeichen und Räumen zu einem lesbaren Gefüge, zu einer begreifbaren Komposition transformierte. Wie Rosemarie Zens scheint er von derselben Sehnsucht getrieben, hinter dem Horizont eine bessere Welt zu entdecken, mit dem gleichzeitigen Wissen, niemals in dieser anzukommen. Ein durchgängiges Stilmittel seiner Fotografien ist die Einbeziehung der Innenausstattung des Autos in die Bildkomposition. Durch diesen Kunstgriff erscheint die Außenwelt wie ein Bild im Bild. Der Alltagwird zu einem Theaterstück des realen Lebens. Diese Schnittstelle zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist auch für Rosemarie Zens’ Journeying 66 von elementarer Bedeutung, da erst sie das Changieren des Wahrgenommenen zwischen Realität und Erinnerung ermöglicht.

 

©Wolfgang Zurborn, in: Rosemarie Zens, Journeying 66, Heidelberg 2012