Aufbruch

I
Jazz beim Laubenpieper
Eintritt frei ‚Whales Forever’
Ehrensache: Spenden für die Mission

‚Sea Shepherd’ und ‘Seute Deern’
Angedockt entlang der Ostseite
Des Neuen Hafens. Jäger und Gejagte

Dampfschlepper und Fischkutter
Bis Columbuskaje: leere Container
Von der Schleuse aus nach Westen

Damals. Was hätten wir alles bewegen
Können! Noch einmal an Bord
Über den Atlantik

Umkehren mit den Lachmöwen
Zum Land zurück
Erneut auf die Boote schleichen

Die Seeventile öffnen
Den Kampf ansagen
Den Feinden des Meeres

II
War nicht Lemuria das Mutterland
Untergegangen im Wasser
So heißt es. Als Feuer vom Himmel fiel

Und die Wale – dem Sirius entsprungen –
Untergetaucht
Auf der Suche nach Land

(Bremerhaven 1968/1996)

 

Anubis

Wer außer Horus blieb wachsam
Da die Ufer zurückwichen
Im Sog der frühen Dämmerung
Die Lufthülle der Erde zu verschlucken
Und die Schwungkraft der Barke das Ruder
Herumriss ihre Segel auszutauschen

Welcher Mond stierte auf den Geier
Der seine Federn zählte
Fels um Fels in Steinbuchstaben schrieb
Die Zeichen des gleichen Horizonts
Für den Gestürzten
Wem war der Himmel näher

Und mit welchen Spielen rechnest du
Gewinn oder Verlust wenn schon
Anubis bellt und die Kamele knurren
Im Dunkeln nach dem Nachtgebet

Und wen nimmst du als Begleiter mit
In die Stadt im Tal am Ufer des Nil
Wo Ochsenkarren Busse und Passanten
Nicht vorwärts wissen noch zurück

(Kairo 1995)

 

Nach kurzer Regenzeit

I
Über dem Steinmeer Dunst
In der Ferne ziehen langsam
Schafherden am Fuße des Horeb
Umzäunt von Distelgestrüpp
Stacheldraht und Militär

Plastikfolien umwickeln die Wurzeln
Werden Pflanze für Pflanze bewässert
Gegen die nackte rissige Erde
Hier ein paar Schekel für eine Handvoll
Datteln und sonngetränkter Oliven

II
Vom Süßwassersee rinnt
Ein dünnes grünes Band
Durch das breite Jordantal
Springt der grätige Petersfisch
Von Klippe zu Klippe

Nach kurzer Regenzeit wachsen
Gerste und Wüstenweizen
Genug für fünf Brote und mehr
Heilig das Land Wasser ist heilig
Vorräte schrumpfen

Um die Johannisbrotbäume
Weht gegen Abend
Der gelbe Wind
In die Beduinenzelte

Neben den Müllkippen
Die Festung Ma’ab Adumim
Neue Hochhäuser als Burgmauern
Wachtürme auf Vulkangebirge

III
Freigelegt der Hasmonäertunnel
Im Zentrum alte Tempelanlagen
Mit den Brandopferstätten
Und ausgetrockneten Zisternen

Auf der Suche nach dem Heiligsten
Um jeden Lichttropfen kämpfen
Sich gegenseitig das Wasser abgraben
Auch wenn die Fundamente sich senken

IV
In Tempera auf poliertem Blatt
In Gold und schwarzer Tusche
Sich einschreiben

Hineinfalten in die Fugen
In die Wunschmauer ins Gras
Zwischen die Ritzen der Steinquader

Neben den Bittbriefen
Auf Faxpapier
Die E-Mail Gebete

V
Seit in den Schriftrollen
Buchstabe an Buchstabe sich fügen
Wuchern die Anemonen

Blutrot über der Schale
Voller schlafender Skorpione

Und erinnern dunkel wie alles
Vergessen erneut sich
Über den Neumond legt

(Jerusalem 1997)

 

Graffiti

I
‘Steine, nichts als Steine, zerstreut und abgewetzt’
Kreischt der Papagei Seneca aus dem Ristorante
Angekettet, Sklave neben Stuhl und Tisch
Autoblech im Schatten des Ölbaums
Lästige Gäste, träge Katzen und Händler gedeckt
Von der mobilen Polizeistation.

Im Auge behalten: Richtungsänderungen
Hochfrisiert röhren die Vespas mit Atemschutzfilter und Helm
An vorderster Front sich behaupten vor rechts und links
Einen Sommer lang.

II
Woher der Taubendreck vom Himmel fiel?
Niemand hat es gesehen
Ein Gruß von Astarte
Für die Seelenvögel
Spiegelwand und Brunnenwasser
Giglio und Giacinta warten, wer heute
Den Hanswurst macht im Cafe Greco
Doppelt verkehrt im Glas voller Schwindel

‘Tell Laura I love her, tell Laura I need her’
Auf diese Weise den Tag beginnen
Die Traubenernte einbringen und Marios Stimme
Hören sein ‘Recondita armonia’
Außerhalb von Sant’Andrea della Valle
War sein Gott der nächste Tourist, ein Pilger
Vor der Madonna in San Agostino.

III
Statuen und Museumsstücke
Hinter dem Wandtabernakel der Thronsessel
In Mosaik gesetzt: ‘Märtyr’
Auf der Rücklehne auch dieses Kreuz
Achse des Universums jener Baum
Baldachin mit zwölf Tauben, Brot und Wein

Tiefer unter der Kirche, unter dem Wohnhaus
Ein Dunkel, das nicht finster war
Zugeschüttet
Ausgegraben
Sitzgelegenheiten
In Nischen darüber
Stuck und Sterne am Gewölbe.

IV
Aus dem Grottenstein geboren
Tritt Gott Mithras auf die Bühne
Den Mondstier zu töten beauftragt von Helios
Fruchtbar sei es für die Erde
Stierblut im Zeitenwechsel.
Erneut mit erhobener Flamme
Versenken die Genien das Licht

Beim Siegesgelage mit Ferkel und Lamm
Erinnert – wenn köstlicher Wein reichlich fließet –
Das Rad des Gefährts auf den Fresken
An die Reise des Gottes zum Himmel.

V
Unterirdisch an feuchten Wänden
Farbengraffiti a Petro e Paolo
Beim Eingang der Katakomben
Der betende Mensch mit erhobenen Armen:

’So gewiss ist die Liebe, wenn einer den anderen
Erhöht’ und kein Richtergott herrschet
Über den Satzbau und den Stein für die Mutter, die Große
Überbaut mit dem Dom auf dem siebenten Hügel.
Weder Papst zu erkennen, noch Päpstin
Die schwarze Kybele allein
Mit dem Palmenzweig

Und nicht über Senecas Worte
Dessen Blicken von der Campagna aus
Auf die Gemeinplätze hin zur Stadt
Mit dem Marmorthron Ludovisis
Wo im Museum auf dem Relief
Die weiße Göttin dem Meer entsteigt.

 

Mehrmals übermalt
Später Winter

1
Vor Dreikönig das Orakel befragen
Die Windmaschine über der Stadt
Ein Palast auf Sumpf und Knochen
Weihnachtsbäume mit weißroten
Bändern von Coca Cola
Bisiness & Co der Newski Prospekt

Aber was wird sein
Nach Frost und Schmelze
Kämpfen Kinder gegen Fußtritte
Und Tränen
Aus dem Schädelbecher
Will niemand mehr trinken

2
Aufgehört zu warten habe der Mann
Sich die Augen verletzt
Um alle Blinden der Welt wiederzusehen
Dort lacht niemand
Niemand weint
Stumpf löffelt er die Suppe
Folgsam dem kranken Gesetz
Offiziell ein glücklicher Mensch,
Der Idiot sein Roman

3
Uns treibt kein Spott aufs Eis
Rotfüßig wie Gänse
In warme Mäntel gehüllt
Stemmen wir uns gegen
Die gefrorenen Wellenkämme
Am Ufer der Newa
Schornsteine und in der Erlöserkirche
Der Blutfleck des Königs
Mehrmals übermalt

An der Quaimauer entlang
Zur Swenigorodskaje
Im Treppenhaus Geruch nach Urin
Terpentin auf der Leinwand
‚Elisabeth mit der schwangeren Maria‘
Ein Lichtstrahl auf der Staffelei
Hat der Maler aus Lösungen
Ein Rätsel gemacht

 

Mehrmals übermalt
Früher Sommer

1
Wenn die Tage des nachts
Ohne Dunkel die Zarenschlösser
Wie Schatten in Sonne getaucht
Kehren wir zurück auf die Insel Wassili
Verbrannte Schriften
Herunterhängende Stromkabel
An den Tapeten Pilzschwamm
Der Rest verfault im Regen

2
Vor dem Friedhof die Frau
Lila Jacke und Kopftuch, der Sohn
Auf dem Schoß Fliederzweige
Zum Verkauf. Neue Schuhe braucht
Das Kind. Die Heiligen dürfen
Nicht zu viel bemüht werden
Bei Weihrauch und Chorgesang
Stundenlanges Stehen in der Kirche
Die Rede unverständlich das Orakel
Zu befragen komme vom Teufel alles Unglück
Vom Zerstören der Ikonen vom Verfall der
Gotteshäuser, erhalten Lenin in Gips und
Der Metropolit Pjotr gefärbt von Kerzenruß
Mehrmals übermalt

3
Darunter die Heilige Xenia. Zum Schutz
Um ihre Schultern gelegt den Mantel
’Trennung ist nur eine Täuschung
Mein Schatten auf deinen Mauern, mein Bild‘
Der klagenden Muse antwortet sie:
Dein Kleid in Indigo, wir werden es nicht
Vergessen. Dich. – Der Tod. Ein Nonsense
Doch das Leben berät sich mit ihm

 

Karthago

I
Den Zugvögeln gefolgt den Geschichten
Der Nomaden vom Byrsa Hügel aus
Das numidische Hinterland und
Die Schiffe im Schutze des Hafens

(Das muss jemand erfunden haben)

In der Medina sammelt der alte Mann
Abfall, wässert das staubige Pflaster
Wacht über die Stunden
Seit die Stadttore nicht mehr schließen

II
Wenn Elissa in seinem Kopf umherirrt
Karthagos Gründerin, um Äneas
Und Hiarbas willen in Treue und Trauer
Gräbt er das schöne Frauenopfer wieder aus

Wie das Fell der Meerkatze
Aufgestellt gegen den Strich
Bis zum äußersten Wellenschlag
Dreht sich der Sonnenwind

Zur noch älteren Schutzgöttin
Tanit, hatte man nicht ihr
Zugeschrieben das grausame
Tier- und Kinderopfer?

Nur Bildungsplunder verfänglich
In Maghrebinien umgehängt
Den weißen Mauern, blauen Türen
In Sidi Bou Said

Klebrige Lippen vom Dattellikör
Mit Zimt abgeschmeckt der Hirsekuchen
Kardamom im Kaffee oder
Doch lieber frischen Minztee im Glas?

III
Unsere Ohren betäubt vom Geschrei
‚Wir alle wollen ins Paradies’
Aus dem Lautsprecher vom Minarett
Ruft eine Stimme zum Gebet

„’Afrika’, sprach der Berberfürst Aurelius
Augustinus, Du bringst die Sache unseres
Glaubens voran, was du entscheidest
Wird in Rom Gesetz

Es waren aber die Christen vor den Barbaren
Die die Gesichter auf dem Mosaik verwischten
Darum sollst du dir kein Bildnis machen
Kein falsches

IV
Im Museé du Bardo
Mit nur einem Auge: Okeanus
Der die Teppichmuscheln freigibt
Aus dem mit Tang versetzten Schlamm

Die zweischaligen Kalkhäuser, grünen
Glasfluss, schwarz und weißen Marmor
Fast fugenlos verlegte Würfel aus Basalt
Aufbewahrt in der griechischen Urne

Hier sind die halbvergessenen Götter
Nicht aus Neptuns Reich vertrieben
Sind Gestalten für die Handwerkskunst
Und Verse, hier ist Schönheit etwas Heiliges

Hier steigt Dionysos, der zweimal Geborene
Sohn des Zeus, hinab seine Mutter zu finden
‘Trink den Wein und du wirst leben’
Wie die Delphine, die Diener Apollons

Hier ist Odysseus gefesselt an den Mast
Bis zur Umkehr dem Rhythmus sich fügend
Zieht vorbei Aphrodite
Führt das Segel mit nur einer Hand
Über allem lächelt
In seinen Bart aus Meeresalgen
Der einäugige Okeanus
In und außerhalb der Welt

 

Lichtungen, Jahrbuch für Literatur, Kunst und Zeitkritik. Graz 1996. Sieben Gedichte.

 

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