Das heilige Land

I
Dunst in der Ferne
Über dem Steinmeer
Ziehen Schafherden vorbei
Am Fuße des Horeb
Umzäunt von Distelgestrüpp
Stacheldraht und Militär

Mit Plastikfolien umwickelte
Pflanzen bewässert
In rissiger Erde
Hier ein paar Schekel
Für eine Handvoll Datteln
Und sonngetränkter Oliven

II
Aus dem Süßwassersee
Rinnt ein grünes Band
Durch das breite Jordantal
Springt nur noch der grätige
Petersfisch von Klippe zu Klippe

Nach kurzer Regenzeit
Wachsen Gerste und Wüstenweizen
Genug für fünf Brote und mehr
Vorräte schrumpfen im heiligen
Land ist das Wasser heilig

Der gelbe Wind heult
Um die Johannisbrotbäume
Beduinenzelte neben den Müllkippen
Die Festung Ma’ab Adumim
Hochhäuser auf Vulkangebirge

III
Freigelegt der Hasmonäertunnel
Im Zentrum verfallene Tempel
Mit den Brandopferstätten
Ausgetrocknete Zisterne

Nach dem Heiligsten suchen
Um jeden Lichttropfen kämpfen
Sich das Wasser abgraben auch
Wenn die Fundamente sich senken

IV
In Tempera auf poliertem Blatt
In Gold und schwarzer Tusche
Sich einschreiben
Hineinfalten in die Fugen

In die Wunschmauer ins Gras
Zwischen die Ritzen der Steinquader
Neben den Bittbriefen auf Faxpapier
Die E-Mail Gebete

V
Seit in den Schriftrollen Buchstaben
An Buchstaben sich fügen
Wuchern die Anemonen
Blutrot über der Schale

Voller schlafender Skorpion
Erinnern wie alles Vergessen
Sich über den Neumond legt

(Jerusalem 1997)

 

Noisma, Zeitschrift für Literatur, St. Gallen, Nr. 37, 1998

 

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