Die Macht der Möglichkeiten in Natur und Sprache

Zu Grit Kalies‘ Gedichtband „Auf Zeit“ Leipzig 2008

Zeugnisse einer außergewöhnlichen Doppelbegabung begegnen dem Leser in den Gedichten von Grit Kalies, der 1968 in Altentreptow/Mecklenburg geborenen Lyrikerin und Naturwissenschaftlerin. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und habilitierte sich 2005 im Fach Physikalische Chemie.

Ihr erster im Mitteldeutscher Verlag Leipzig erschienener Gedichtband „Auf Zeit“ trifft gleich in medias res auf die äußere und menschliche Natur, auf deren Gesetz bestimmt von Dauer im Wechsel. Aber „Die Zeit hatte sich in den Worten versteckt“ heißt es in „Nachbemerkung“ und im programmatischen Gedicht „Poesie“: „So ein langsames Gift/ braucht Jahrzehnte (wenn nicht/ Jahrhunderte)…Es zieht alles maßlos in die Länge./ Dem Tag gibt es die Stunden/ der Nacht gratis dazu. Trauer/ verlängert es mit Trost. Wissen/ dehnt es zu Ahnungen.“ Der Zeilenbruch entzweit den Genitiv und die Interpunktionen mitten in den Zeilen machen aufmerksam auf das Brüchige und bringen in der Umkehr und den Wortwendungen betont durch Alliterationen wiederum neue Verbindungen hervor: von Tag, Trauer und Trost.

Seit langem ist nicht mehr mit derartiger Ernsthaftigkeit von der existentiellen Notwendigkeit von Poesie gesprochen worden. Neben Gift steht Trost, als gehörte scheinbar Unvereinbares zusammen. Akribisch genau werden die chemischen Nebenwirkungen des Giftes ausgebreitet: „(Lies die Packungsbeilage…“ und gleichzeitig an die „Macht der Möglichkeiten“ appelliert „Aber nicht gleich. Erst versuch es/ ein paar Jahrhunderte lang/ mit Poesie.“ Eine andere Art von Gift, dessen ,Glaubwürdigkeit‘ „Auf Zeit“ setzt und das in der mittelhochdeutschen und der heutigen englischen Sprache Gabe, Geschenk, Begabung bedeutet.

Es ist dieser schwebend-eindringliche und gezielt auf Verwandlung, ausgerichtete Ton, der diese lyrische Stimme trägt.
[…]

Rosemarie Zens, in: Signum, Blätter für Literatur und Kritik, Dresden (2008)