Tanzbilder – Was ist Schönheit?        PDF ↓

 

Das Eindrucksvolle an den Bildern der Malerin Tilly Börges liegt in der Pinselführung und Farbgebung, die im Ringen um die Verbindung von abstrakten und konkreten Ansichten den Prozess der Entstehung selbst mitgestalten. Und da jedes Kunstwerk – wie Emile Zola sagt – ein Zipfel der Schöpfung aus der Sicht eines individuellen Temperaments darstellt, also ein Teil eines ursprünglichen Geschehens und zugleich ein Besonderes des Künstlers ist, soll zunächst Tilly Börges selbst vorgestellt werden.

Während der Sommerakademie in Salzburg 1995 begegnet sie Jacobo Borges, dem lateinamerikanischen Maler, Zeichner, Filmregisseur, Bühnenbildner und plastischen Künstler. Beide verbindet die Freude an allem Kreatürlichen und Abstrakten. Trennung und Trauer, Neuanfang und Verwandlung bestimmen seither auch das Werk von Tilly Börges, die mithilfe von Kohle, Bleistift und Acryl auf die Leinwand zu bringen weiß, was durch Rhythmus und Klanggebung als Form verdichtet Bestand hält.

Tilly Börges hat nach dieser prägenden Begegnung ihren künstlerischen Zugang vor allem in der Welt des Theaters gefunden. So ist sie Tänzern und Schauspielern auf den verschiedensten Theater- und Opernbühnen gefolgt, hat zugeschaut, war fasziniert von dem Traum des Menschen, sich von seiner Erdenschwere zu befreien, der raumzeitlichen Begrenztheit zu entfliehen und ganz allgemein, die Zeit selbst in Bewegung zu setzen. Und das in einer zunehmend virtuellen Welt, die uns immer mehr zu verwirren scheint. Bei der Betrachtung von Tilly Börges‘ Bildern dagegen könnten wir hier den Sachverhalt umdrehen und die Wirklichkeit nach ihrer Ähnlichkeit, die sie mit den Bildern hat, überprüfen. Es könnte ja dann sein, dass uns ihre Bilder zwangsläufig mehr beeindrucken als je das Original uns zu überzeugen fähig wäre. Wir sähen dann nicht nur, was wir sehen, vielmehr, was wir wünschen oder nicht wünschen zu sehen und überließen uns dem Zauber des Spiels.

In dem Spannungsbogen von Abstraktion und Gegenständlichem nähert sich die Künstlerin mit ihrer Malerei zum einen der Auffassung des Malers Piet Mondrian, dass Natur und Geist ihren reinen Ausdruck und ihre wahre Einheit nur im Abstrakten finden. Diesen Anspruch vom „reinen“ Ausdruck in der Abstraktion bestätigt und unterläuft sie allerdings zugleich. Gegenüber allen natur- und grenzwissenschaftlichen Erfahrungen zeigt sie sich zum einen aufgeschlossen wie auch zum Werk Wassily Kandinsky und seiner Schrift „Das Geistige in der Kunst“ (1911), in der er ebenfalls die reine Form und die reine Farbe als Chiffren des puren Geistes interpretiert. Doch sie erweitert diese Vorstellungen um einen ‚abstrakt-konkreten‘ Expressionismus in der Art, wie sie mit ihren angedeuteten Figuren der eigenen inneren Bewegtheit und in deren Steigerung dem inneren Chaos gestalterisch folgt.

Dies entspricht einer Haltung, die Nietzsches Zarathustra sagen lässt, „…man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können… Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird! … Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann … Ich zeige euch den ‚letzten‘ Menschen. „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ Bei der Betrachtung von Tilly Börges‘ Bildern fügen wir die Frage hinzu: Was ist Schönheit?

Eine Antwort können wir nur zu umschreiben suchen: es ist das, was uns anrührt, vielleicht in Erinnerung an eine Welt, die wir intuitiv mit einem Ort verbinden, der uns immer wieder erneut zu entgleiten droht, um ein Leben lang auf der Suche zu sein in Ahnung und Anlehnung an unsere Ursprünge aus dem Schöpferischen. Das wäre in der Wiedererinnerung ein Bewusstwerden von Gesetzmäßigem, und zwar demjenigen unserer Herkunft aus dem wechselseitigen Bezug von Chaos und Ordnung, von Trennung und Verwandlung.

Dieses hätte wie in Tilly Börges‘ Bildern, und ausgelöst durch sie, zu tun mit Austausch, Rhythmus und Schwingung. Und mit arithmetischen Proportionen, die dem entsprechen, wie die Tänzer, wie unsere Körper und unser Geist sich bewegen. Beide – Kunst und Tanz – Bild und Betrachter – erscheinen in Tilly Börges‘ Figuren-Inszenierungen, gleichsam als Umarmungen, die in Distanz und Nähe das Fremde und das Eigene ununterscheidbar werden lassen und doch jeweils mit sich identisch bleiben.

So wird dem Betrachter vermittelt, seinem Streben nach Gleichgewicht immer wieder erneut zu folgen. Denn auf die Bilder von Tilly Börges mit eigenen Erfahrungen zu antworten, heißt, in ihnen diejenige Schönheit in Wahrheit zu finden, die sich der individuelle Ausdruck als Entsprechung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten schafft.

 

©Rosemarie Zens, Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung der Ölbilder von Tilly Börges in Hamburg am 25.1.2000