Poesie und Natur. Ein Gespräch        PDF ↓

 

Fragen und Antworten zum Gedichtband Vom Gesetz der Währung (1) und zum Essay Das geeichte Alphabet (2)

 

Die Unmittelbarkeit, aus der heraus unsere Sinne Bildmotive entstehen lassen, wird in dem Essay „Das geeichte Alphabet“ als „Die erste Natur der Dichtung” bezeichnet.“ Welche Bildmotive sind gemeint? Die konkreten Bilder wie Baum und Blatt oder Bilder, mit denen Selbstähnlicheiten von abstrakten Objekten in fraktalen Strukturen als Mandelbrot’s Apfelmännchen bezeichnet werden.

Die Metapher Apfelmännchen trifft den Kern unseres Erkenntnisinteresses. Sie stellt beispielhaft den Schnittpunkt zwischen unserem Wahrnehmungsvermögen und unserer Einbildungskraft dar. Es geht darum, immer wieder neu eine Verbindung zu schaffen zwischen Sinneseindruck und Bildfindung, die der ersten und zweiten Natur der Dichtung zugrunde liegen.

Was ist dann die dritte Natur der Dichtung? Und gibt es eine vierte? Wie viele Naturen hat die Dichtung?

Es gibt verschiedene Weisen der Metaphernbildung, wie es unterschiedliche menschliche Temperamente, Horizonte, Haltungen und Gestimmtheiten gibt. Um einen gewissen Konsens über Gesetzmäßigkeiten unseres Zugangs zur Welt zu finden, liegt es nahe, unser Sprachvermögen ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Hier kann der Vergleich zwischen den beiden Kulturen, zwischen den Naturwissenschaften und der Poesie hilfreich sein, um das jeweils andere deutlicher zu erfassen. Uns geht es um den Kontext, in dem die metaphorische Sprache eingebunden ist, so dass sie sich innerhalb ihrer Grenzen behaupten und sich zugleich mit ihnen neue Verständnismöglichkeiten eröffnen.

Die Wechselwirkungen zwischen Naturwissenschaft und Poesie sind seit jeher Gegenstand von Untersuchungen und Diskussionen. Hat die heutige Zeit neue Einsichten hinzugewonnen? Der Naturwissenschaftler beobachtet meist über reproduzierbare Experimente, die so empfindlich und exakt wie möglich sein sollen. Der “geborene Dichter” dagegen ist einer, der mit seiner Einbildungskraft der Welt begegnet. Mit welchen Arten von Beobachtung lässt sich die Natur, auch die eigene besser erforschen? Gibt es ein ”besser” überhaupt?

Dichter und Naturwissenschaftler streben beide als wahrnehmende Beobachter Distanz und Nähe zu den Dingen an, indem sie mit einer Art Unschärfe und doch auch Genauigkeit arbeiten. Während der poetischen Sprache Klang, Rhythmus, Melodie und Wort eigen sind, stehen dem Naturwissenschaftler Zahlentabellen, Grafiken, Zeichengefüge und Beschreibungen zur Verfügung. Auf beide Kulturen lässt sich Wittgensteins Satz anwenden: Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Es gibt kein ‘besser‘, sondern ein ‘anders‘ der Zugangsweise zur Welterfahrung.

Im Essay “Das geeichte Alphabet“ wird der Mathematiker Poincaré zitiert, der von einer ”tieferliegenden Schönheit“ spricht “ die aus der harmonischen Ordnung der einzelnen Teile kommt und die die reine Intelligenz begreifen kann.” Wie ist das zu verstehen?

Die Annahme, einer harmonischen Ordnung zu entsprechen, beruhigt unsere Seele und unser Gemüt, weil sie sich in einen größeren Zusammenhang gestellt sehen. Letztlich richtet sich unser ganzes Streben darauf, mit all unseren Sinnen die in der jeweiligen Zeit erlebten Erfahrungen in Erkenntnis zu überführen. In Bezug auf die Poesie vertieft dies Schopenhauers Einblick in die Tätigkeit der Dichter, die zwar ”den heitern Morgen, den schönen Abend, die stille Mondnacht” besingen, aber damit eigentlich die Verherrlichung des Menschen meinen, d.h. ”das reine Subjekt des Erkennens”, die Verherrlichung, ”welche durch Naturschönheiten hervorgerufen” wird. Eine Art ”Erhebung des Menschen über sich selbst”, die, so fügen wir hinzu, durch Teilhabe an den Dingen und mit der Welt, eine Art Ausgleich sucht zu seiner Vereinzelung.

In vielen Gedichten wie im Gedichtband ”Vom Gesetz der Währung” kommt eine fast archetypische mythische Naturverbundenheit zur Sprache, es tauchen auffällig viele Begriffe aus Geologie und Physik auf.

Um neues Wissen, auch aus den Naturwissenschaften zu integrieren, können wir in der Dichtung gar nicht anders als die ”Arbeit am Mythos” fortzusetzen. Indem wir mit neuen Sprachschöpfungen Traditionen fortschreiben und sie zugleich modifizieren. Wichtig sind die Überlieferungen über die Beziehung zu unserer Welt. Denn über das, was sich dem individuellen und kollektiven Gedächtnis eingeschrieben hat und weiterhin einschreibt, kommen wir den anthropologischen Naturgesetzen und kosmologischen Realitäten am nächsten.

Wie ist nun letztlich das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und der Dichtung zu bestimmen?

Wir befinden uns unentwegt auf der Suche, wie wir mit dem Wesentlichen unserer menschlichen Natur umgehen, dem Schauder, dem Staunen, der Neugier und dem Sinn für Komplexität. Es geht beiden Kulturen um ein Natur- und Weltverständnis, das im besten Fall Mitgefühl mit allem Kreatürlichen und Ehrfurcht gegenüber unserem Planeten umfasst. Nicht nur wir sind fragil, auch die Erde, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Den Darstellungen der naturwissenschaftlichen Forschung und den Spracherfindungen der Dichtung liegen Beobachtung, Forschung und Verständnissuche zugrunde. In diesem Sinne können beide Arten von produktiver Schöpfung Kraft und Zuversicht, Trost und Zusammenhalt geben.

 

(1) Rosemarie Zens, Vom Gesetz der Währung, Gedichtzyklus, Rimbaud Verlag, Aachen 2009
(2) Rosemarie Zens, Das geeichte Alphabet, in: Signum, Blätter für Literatur und Kritik, Dresden 2010