Zum Spätwerk Wilhelm Raabes
Der mehrjährigen Beschäftigung mit dem Fragenkomplex natur- und geisteswissenschaftlicher Zusammenhänge liegt die Untersuchung zum Spätwerk Wilhelm Raabes ‚Krankheit und Medizin im literarischen Text‘ (Würzburg 1990) zugrunde. Studien in Biologie, Geschichte und Sprachwissenschaften sowie die Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen Konzepten, wie sie u.a. an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie e.V. in München gelehrt werden, bildeten die wissenschaftliche Grundlage.
Während dieser Studien ging es um Standortbeziehungen und Grenzerfahrungen hinsichtlich der beschreibenden und bewertenden Begriffe ‚Gesundheit und Krankheit‘. Da die Wirklichkeit von ‚gesund‘ und ‚krank‘ ein vielschichtiges Gewebe darstellt, in dem psychische, somatische und soziale Dimensionen menschlicher Existenz miteinander verknüpft sind, macht erst die Erkenntnis ihrer Zusammenhänge ein Verstehen möglich; wobei gesellschaftliche Normen und die anthropologische Grundkonstante der menschlichen Natur mit einzubeziehen sind.
→ weiterlesen
Etymologisch bedeutet Gesundheit ‚kraftvolle Bewegtheit‘, d.h. physische, psychische und geistige Beweglichkeit, und von daher implizieren Gesundheit und Krankheit prozessuale Übergänge, Gradunterschiede und Arten des Daseins, die immer neu gestaltend-verändernd den menschlichen Lebenslauf durchziehen.
Um verstehende Akzeptanz menschlicher Lebensgeschichten und um die kritische Auseinandersetzung mit diesen geht es auch der Literatur. Dabei beeindruckt an dem Erzähler Wilhelm Raabe beispielhaft dessen eigentümliche Art des Verstehens bei aller bewusst beibehaltenen Distanz, beim Sichhineinversetzens in andere Personen. Sie ist durchaus mit dem zu vergleichen, was in der heutigen Psychiatrie als Empathie bezeichnet wird. Darüber hinaus zeigt sich in seinem polyperspektivischen Erzählstil, der eine Verinnerlichung und Vertiefung der Sehweise mit sich bringt, eine Nähe zur literarischen Moderne.
Da nun eine der wesentlichsten Anliegen der literarischen Moderne die Kritik an der fortschreitenden Verselbstständigung der Entwicklung in Wissenschaft und Technik ist – ohne Eingliederung in eine ethische Ordnung – ist in diesem Zusammenhang auch schon im Werk Raabes Krankheit als Metapher für diese Verhältnisse anzusehen.
Sehen wir die literarische Krankengeschichte als Zeitgeschichte, finden wir in Raabes Auseinandersetzung mit der Gründerzeitmentalität des Wilhelminischen Reiches die Thematisierung eines spezifischen Existenzkampfes, vor allem in seinem Spätwerk ‚Der Lar‘ (1889). Dabei knüpft der Autor einerseits an Darwins Erkenntnis der ‚sozialen‘ Instinkte bei Mensch und Tier an, wendet sich jedoch andererseits gegen die antihumanen Ausprägungen des Sozialdarwinismus mit seiner Ideologie der Gesundheit, der Stärke und der Absolutsetzung von Erfolg.
Die zunehmenden Polarisierungen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen werden ebenso vorgeführt wie das Prinzip der Beherrschung der Natur – der menschlichen eingeschlossen – abgelehnt wird.
Die Fragwürdigkeit sich verwissenschaftlichender Medizin, die ihre Normen einseitig nach einer quasi naturwissenschaftlichen Objektivität ausrichtet, findet ihre literarische Entsprechung und Quintessenz in der Geschichte des psychisch erkrankten Psychiaters Feierabend in Raabes Fragment ‚Altershausen‘ (1899/1910). In dem posthum veröffentlichten Roman trägt der aufklärerische Impuls zur erweiterten Bewusstwerdung bei, psychische Leiden nicht als krankhafte Abweichung von der ‚gesunden‘ Norm zu verstehen, sondern als Ausdruck kritischer Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Mängeln und Problemen. Ebenso geht es aber auch im anderen Extrem um die Absage an ein Psychologieverständnis, das wie die exakten Wissenschaften weder ‚Schicksal‘ oder ‚Vorsehung‘ kennt und dem deshalb das Tragische als krankhafter Fall erscheinen muss. Zwischen diesen beiden Polen liegt das erzählerische Ethos des Autors – dargelegt durch Sympathielenkung und Distanzierung mit Hilfe ironischer und symbolischer Stilmittel.
Wenn man der Literatur die Macht zuspricht, nicht nur Realität kritisch zu umgrenzen, sondern auch durch Selbstvorstellungen, Erwartungen und Handlungen Wirklichkeiten mittelbar und eindeutig zu prägen, dann möchte man dem Werk Wilhelm Raabes wieder mehr Leser wünschen. Für seine die Fachgrenzen übergreifende Leistung steht nicht zuletzt am Ende seines Lebens die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät Berlin. Besonders das Spätwerk Wilhelm Raabes bezeugt, dass Dichter und Schriftsteller mit ihrem anthropologisch-psychologischen Wissen oft im Widerspruch zu ihrer Zeit stehen, d.h. dem Wissen ihrer Zeit voraus sind, oder anders gesagt, dass gute Dichtung einfach zeitlos ist.
Rosemarie Henzler (Zens), in: Krankheit und Medizin im erzählten Text. Eine Untersuchung zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 1990