Walfisch oder Vogel? (Istanbul 1994)

Seit den frühen Morgenstunden
sonnen sich gleißende Echsen
in den Einschusslöchern
vor den Stufen der Beyazit Moschee
warten die Frauen mit ihren Kindern
neben dem duftschweren Jasmin
ist eingenickt der alte Mann
auf der Suche nach dem Schatz
träumt er den Ketzergürtel beiseite
tanzt im aufgewirbelten Staub
Stamm und Blüte, Blatt und Knospe
Arabesken in Gold auf Email
im Kreis vor dem Sultanspalast
am Tor der Glückseligkeit.

Scheich, Großwesir, Emir, Kalif, Imam
Muezzin, Mullah, Mufti, dem Padischah
und Siebenschläfer neben
Giftmischern, Bettlern, Musikanten
Baumwollpflücker, Straßenschreiber
Hirten und Fabrikarbeiter

im Kapali Carsi bei Samoswein
und Apfeltee die Händler mit Kleinvieh
Bernstein, Weihrauch, Seide, Honig
gefüllt die Magazine
Verrat wie ehedem verbotene Schriften
Kerkertod im Niemandsland.

Aus dem westlichen Exil in weichen Pantoffeln
sitzen wir auf dem fliegenden Teppich Salims
nach seinen Worten der Lebensbaum
gefärbt mit Safran, Indigo und dem Blut
des Opfertieres, das geköpft, gekocht
zerstückelt und zerteilt dem Höheren diene.

Das Goldene Horn am Bosporus
im Sonnenuntergang
über dem Marmara-Meer
ein anderes Ufer
Erdteil: Asien.

Helden und Glücksritter kehren
niemals von dort zurück
gehen immer nur fort
mit den Wanderungen der Völker
entlang dem Fluss von Brot und Geld
klebt Blut an den Buchstaben des Gesetzes
nach Maß eurer Augen allein
messt die Sterne nicht
mit Eselsschwanz und Engelsflügel
Mondsichel und Kreuz
seht hinter den polierten Spiegel:
Walfisch oder Vogel?

Jenseits des Lotosbaumes trägt Iblis
Trauer und den Fluch
zu sammeln die Körner in Schalen
dass der Himmel sich ihrer bediene
als Gewichte auf seiner Waage.

 

Brooklyn Bridge (Brooklyn 1996)

Wenn vor den Häuserhöhlen
über der Brooklyn Bridge
das fallende Licht die Augen
aus tausend Fenstern erhellt

entfernt sich das Sirenengeheul
und Scheppern der Coladosen
im Rinnstein flatternde Tüten
verrottetes Strandgut
als fiele es über den Rand
der Welt mit diesem trotzigem Blick:

Be streetsmart
Enjoy yourself
Und geh’

mit dem Teufel
Schädelformen bepflastern
grün auf weiß das Museum
unserer Gehirne zukleistern

Be streetsmart
Enjoy yourself
Und geh’

in die Krypta von St. Patricks
Knochen einsammeln
Und im Chor der Engel
dich zu drehen

Denn drüben auf der Barke
neben dem Rivercafé durchmisst
der Geigenbogen auf den leicht
bewegten Wellen adagio cantabile
das dunkler werdende
Rechteck des Himmels.

 

Zwischen Ost und West

Wenn ich wieder
Nach Jerusalem käme
Hätte ich nochmals den Mut
Zu gehen durch das Palmentor
Mit den maurischen Rundbögen
Den lang gezogenen Schriftbändern
Aus dem Gedächtnis der Völker
Zeichneten meine Finger

Kinder mit geballten Fäusten
In Hass und Angst
Hungrig und durstig
Nach dem Salz in der Ferne
Vor der Höhle des Löwen
Die Süßwasserquellen
Der Hüterin von Engedi
In der Glut der fallenden Sonne

 

Die Pelikane auf der Insel Alcatraz (San Francisco 1995)

Noch immer sind die an Land gespülten
Auswanderer, Einwanderer, Verfolgte
und Abenteurer auf der Goldsuche
nach der Alchemie des Herzens
forschen und fragen den jungen Ägypter
warum er das koptische Kreuz
bis ans Goldene Tor trägt
und zu den Kischblütenbäumen
am Kong Chow Tempel

warum er über die zwanzig Sandsteinhügel
gewandert auf der Höhe Roms
und der levantinischen Küste dem Schrecken
entflohen dem Museum der bebenden Erde
und dem nachfolgenden Feuersbrand, ach
und dem Kampf wer ist auserwählt
nach Farbe und Bekenntnis

im Spiel mit Zahlen und Ziffern
dem Schicksal der Sonnen begegnet
im neuen Jahrtausend dem Glanz
der Bilder sich hingibt dem Tangotanz
der Sterne for eve more

und liebt wie der heilige Franzisco die Tiere
dass sie zurückkommen mögen eines Tages
die Pelikane auf die Insel Alcatraz.

 

Feueropal (Santa Fé 1994)

Nachts heult der Wüstenwind
von Westen her über den Leib der Welt
schiebt er die weißen Wolken
drehen sich und wühlen
Gräben auf im Bauch der Erde
wirbeln Müll gegen
die Festung Los Alamos

suchen auszuspucken das Übel
wieder zuzudecken mit Sandsternen
deine Augen zu ermüden

bis die Stromschnellen hinauf und
hinab davontreiben mit dir
auf dem Kahn die Segel ausgespannt
in Türkis an Häusern vorbei und Hügeln
aus rotbraunem Ton und dem Blau
der Türen und Fenster öffnen sich
zum Plaza hin zu den Arkaden
und Pappelbäumen wo Pueblos
Silberketten und Bänder feilbieten
und gewebter Stoff Käufer findet

zum Färben der Träume
Wolkenringe aus Topaz und Feueropal
solange das Schwungrad
des Sonnenbogens die Stunden zählt.

 

Schlussendlich (Zürich 1992)

Zieh fort vom Limmatquai über den See
Bögg, mit deinem Strohgewand
reite dem Winter davon
mit Flammen, Pfeifen und Trompeten.

Ein Heidenspaß, wenn’s Sechserläute
tönt vom Siebenmeterzeigerturm
wachsen über dem Neptunbrunnen
neue grüne Kleider.

In Tracht und Brauchtum lehrt Zunft
Handwerk, Zins nach Treu und Glauben
dem Zugereisten seit Jahr und Tag
hier könne er wohl sein zuhause
aber nicht im Exil verhaftet bleiben.

Vorbei der Winter streift
mit seinem Mantel im Vorübergehen
Zäune, Gassen, Park und weiß nichts
schlussendlich von Vertreibung
bis zum nächsten Jahr.

 

Barben und Muscheln (Rom 1993)

Fast Kinder noch sind sie von zuhause
weggelaufen Weihnachten im underground
Tunnel vor der Villa Borghese nah
aneinandergeschmiegt auf grauen Decken
mit dem jungen Hund Carpe Diem
werfen Schatten weiter zurück auf Rom
als Catull, Vergil und Horaz noch glaubten
das Licht der freien Sonne zu empfangen

die uns heute hinausbegleitet aus der Stadt
nach S. Marinella wo das Meer sich öffnet
rollt und zischt es glitzernd unruhig
und immergleich gierig waschen die Wellen
den Kieselstrand und ziehen sich zurück
mit der Abenddämmerung

während im Schimmer des halbrunden Lichts
der Fischer Josef den Arm um seine Maria legt
suchen ihre Augen und Münder
satt zu werden an Rotbarben und Muscheln
den köstlichen und leicht verderblichen
Früchten des Meeres.

 

Jahrbuch für Philosophie, Kultur und Gesellschaft. 1995/96. Sonderdruck. Sieben Gedichte.

 

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