Zur Ideologiegeschichte der Psychologie
Die literarische Krankengeschichte als Zeitgeschichte der Moderne
Im Bemühen um ein umfassendes Verständnis von Gesund- und Kranksein sind wir seit der Aufklärung und seitdem vom Positivismus geprägten Denken des 19./ 20. Jahrhunderts einen weiten Weg gegangen.
Nachdem die Vorstellung von Krankheit und Gesundheit sich auf Krankheit als rein objektivierbare wissenschaftlich medizinische Größe reduziert hat, erfolgt im Zuge dessen eine allmähliche Eingliederung der Seelenforschung in den naturwissenschaftlichen Rahmen. Analytische Beobachtung und Reflexion werden zu methodischen Mitteln. Während wissenschaftsgeschichtlich im 19. Jahrhundert die entschiedene Hinwendung zur empirischen Wirklichkeit vorangetrieben wird, wird die innere Wirklichkeit des Menschen vernachlässigt. Statt sich von den Dingen, Erscheinungen oder Menschen etwas sagen zu lassen, soll mit Hilfe des mikroskopischen Blickes die Erfahrung des Seelenlebens objektivierbar sein.
Zwar wird durchaus noch eine verstehende Psychologie betrieben – wie auch in dem um 1800 erschienenen ‚Magazin der Erfahrungsseelenkunde‘ von Karl Philipp Moritz nachzulesen – doch sind Verstehen und Erklären in der Psychologie hier noch nicht geschieden.
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Während Herbart (1776 – 1841) in seinem ‚Lehrbuch zur Psychologie‘ (1816), mit dem er die Ausformulierung der Psychologie zur Wissenschaft vorantreibt, noch in jeden Krankheitsursprung psychologische Überlegungen legt, verselbständigen sich diese im Laufe der Verwissenschaftlichung zu Pathologisierungen. Zunehmender Metaphysischer Sinndefizit und spirituelles Unvermögen führen angesichts der existentiellen Fragen des Menschen zu Ohnmacht und Angst und als Kehrseite derselben zu Überlegenheitsdenken.
Bei der Betrachtung der Phänomene Krankheit und Gesundheit wird infolge dieser anthropologischen Verunsicherung und mit ihr durch die Reduzierung auf das naturwissenschaftliche Weltbild eine Spaltung hervorgerufen. Diese lässt Krankheit vor allem als ein Ereignis zu, das wegoperiert werden kann, und Gesundheit als eine Erscheinung, die anzustreben zu einer fixen Idee wird. Es verliert sich der übergreifende Blick auf die gesundheitsfördernden Bedingungen menschlichen Lebens – die ontologische und existentielle Fragen miteinschließen würden -, und so nimmt das Denken in dichotomischen Begriffen des Entweder – Oder wie Krankheit oder Vernunft, Wahnsinn oder Aufklärung usw. seinen Fortgang.
Die Diskussion um den Streit zwischen Psychikern und Somatikern, die als später Reflex der romantischen Naturphilosophie zu verstehen ist, spiegelt den Leib/Seele Dualismus wider. Dieser offenbart sich in seinen Extremen in der Frage, ob das Irrsein eine moralisch anrechenbare Erkrankung der Seele sei oder die Seele, da sie als unsterbliche geistige Substanz nicht erkranken kann, in ihren Bestrebungen nur durch organische Erkrankungen behindert wird.
Im Zuge dieser Entwicklung ist im Rahmen einer Eingliederung der Psychologie in die naturwissenschaftlich orientierte Psychiatrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine allmähliche Auflösung des Seelenbegriffs überhaupt festzustellen. Allerdings geht es der Wissenschaft dabei nicht um die Annahme oder Nichtannahme einer Seelensubstanz, vielmehr werden „seelische“ Bewegungen tendenziell nur noch als Funktion des Gehirns angesehen.
Das Dilemma scheint unauflösbar zu bestehen: die Einheit der Natur auf Kosten einer geschlossenen naturwissenschaftlichen Erklärung zu behaupten oder an einem geschlossenen naturwissenschaftlichen Weltbild festzuhalten auf Kosten einer als Einheit gedachten Natur. Und es bleibt die Frage mit Blick auf die seelischen, sozialen und körperlichen Faktoren, wie Seelisches ins Körperliche wechselseitig umschlagen kann.
Die Psychosomatik – so betrachtet – ist in eben demselben unauflösbaren Dualismus gefangen, wie auch schon die Diskussion 150 Jahre zuvor zwischen den Auffassungen der Psychiker und Somatiker. Dass seelische Krankheiten zumeist überwiegend körperlich verursacht sind, galt noch bis in die 60 Jahre in den meisten Abteilungen der Psychiatrie. Andererseits ist die Gefahr der Überbewertung psychodiagnostischer Befunde nicht zu übersehen, die sich an dem Wandel von Krankheitsauffassungen in den letzten Jahren offenbart. Dies lässt sich daran ablesen, in welchem Umfang erkannte psychologische Störungen als Krankheiten gewertet werden: so sind einerseits erst in den letzten 20 Jahren neurotische und psychosomatische Krankheiten überhaupt im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) anerkannt und werden andererseits seelisch bedingte Störungen, die im neunzehnten und bis ins zwanzigste Jahrhundert nicht als Krankheiten gewertet, sondern als organische Krankheiten weitgehend umetikettiert wurden, heute als Makel oder als persönliches Versagen dargestellt.
Die anthropologische Theorie der Medizin heute, wie sie von Uexküll und Wesiack vertreten wird, versteht den Menschen als bio-psycho-soziales System. In diesem System wird die individuelle Wirklichkeit des Menschen in dem Modell eines von angeborenen und erworbenen Programmen gesteuerten Regelkreises (Situationskreis) gesehen, das den Leib-Seele-Dualismus übergreift. Dies wird durch ein Bild verdeutlicht, wonach der Körper „jenseits seiner Haut von einer zweiten – durch unsere Sinnes- und Bewegungsorgane von Situation zu Situation neu aufgebauten – Hülle umgeben ist, die wir als unsere konkrete, sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit erleben.“ Jede Verletzung dieser Hülle kann zu Stressphänomenen führen, also auch zu Krankheiten, und /oder den Verlauf bestehender Leiden nachteilig beeinflussen. Offen bleibt die Frage, wer oder was diesen Regelkreis wie steuert, also damit, wie auch das Zusammenspiel von Zeit und Individuum in jedem Einzelfall zu verstehen ist.
Auf einer anderen Ebene versuchen die klinische Psychologie und Verhaltenstherapie sich diesem Problem zu nähern. Auf einer Tagung im Februar 1990 in Hannover unter dem Titel „Leitsymptom Gesundheit“ stellt der israelische Mediziner Antonovsky sein Denkmodell eines Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit vor, in dem wir uns ständig bewegen. Kritisiert wird an der bio-psycho-sozial eingestellten Medizin und Psychologie, dass sie noch dem alten Paradigma verhaftet bleibt. Sie habe zwar – so lautet die Kritik – eine erweiterte mehrschichtige Sichtweise, nehme aber Gesundheit wie alle gängigen medizinischen und psychologischen Denkmodelle als Normalzustand, als gegeben an.
Für Antonovsky dagegen ist der normale Zustand die Heterostase, das Ungleichgewicht des menschlichen Organismus. Nicht allein nach den Krankheitsfaktoren, der Pathogenese sei zu fragen, vielmehr auch nach der Salutogenese, nach den Faktoren, die einen Menschen trotz aller Gefährdungen weitgehend gesund erhalten. Doch reicht eine solche Orientierung allein nicht aus als Anweisung für ein ‚richtiges‘ Leben, vielmehr sollte sie auf derjenigen wertfreien Betrachtung basieren, die Gesundheit und Krankheit besser verstehen hilft: derjenigen, die darin besteht, grundsätzlich von dem Zustand eines Ungleichgewichts, der Heterostase – ähnlich wie bei Hippokrates und Paracelsus – auszugehen, in dem die Bewegungsrichtung zu gesund oder krank ins Blickfeld rückt.
Entsprechend dieser Sichtweise können wir weiter fragen, wie schwierig es unserem Denken fällt, sich aus den Dichotomien und Dualismen herauszulösen. Denn in der Sprache selbst – dem Modus unseres Denkens – stellen sich vor unsere Wahrnehmungen Weltentwürfe, Bilder und Begriffe. Eingedenk des scheiternden Ansatzes einer begrifflichen Fixierung von Erfahrung, auch wenn wir es mit Analogien zu tun haben, ist unser begriffliches Denken kausal. Deshalb können wir letztlich auch nicht ohne eine Art Vorverständnis den Phänomenen begegnen.
Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang deshalb das Bemühen, Begriffe und Vorstellungen zu überprüfen, sie nach den historischen Ursprüngen oder traditionellen Herleitungen zu befragen. Diese Blickrichtung versucht Funktionelles und Strukturelles, den Weg und das Ziel zu umfassen. Danach sind Gesundheit und Krankheit zum einen zusammen zu denken und zum anderen je nach Betrachtung einmal das eine als Weg oder Ziel und ein andermal das andere als dieses zu begreifen. Dem Prozesshaften liegt ein Wechselwirkungszusammenhang zugrunde, eine ständige Wieder-Neuorientierung, eine Wieder-Neuschöpfung auf das Mögliche hin, auf Leidensfähigkeit, Ambivalenztoleranz und Selbstbehauptung.
Das große Verdienst Sigmund Freuds besteht darin, dass er parallel mit dem Aufkommen der dynamischen Psychiatrie um 1900 mit Hilfe der „talking cure“ den Therapiegedanken wieder eingeführt hat in die begriffliche Welt der naturwissenschaftlichen Medizin von Analyse, Diagnose und therapeutischen Nihilismus. Darüber hinaus hat Freud auf die auf Pathogenese bezogene Medizin aufmerksam gemacht und auf den ungeheuren Einfluss der Emotionen auf Gesundheit und Krankheit. In Therapiegesprächen wird seither versucht, Paradoxien und Spannungszustände mittels Sprachsensibilisierung freizulegen und Polaritäten wie Schmerz und Freude, Liebe und Tod, gesund und krank Raum zu geben.
Demgegenüber blieben existentielle Fragen zuvor weithin ausgespart. Zumindest jedoch kommt Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff des Verstehens auf, den die dynamische Psychiatrie aus den Geisteswissenschaften übernimmt. So fasst der Philosoph Wilhelm Dilthey Leben und Lebenslauf als erworbenen Seelenzusammenhang auf. Wenn auch die Frage nach einem übergeordneten Standpunkt und Einsicht in unsere Wissensgrenzen oft noch ausgeblendet wird, und Verstehen als ein Verstehen von schon vorher Erklärtem erscheint, so impliziert dieser Begriff doch zunehmend nicht mehr die vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Mitteilung, sondern die verändernde Erprobung des Einzelnen im Hinblick auf Gemeinsamkeiten menschlichen Daseins. In abgewandelter Form können wir mit Lacan sagen, „Das Unheimliche, das Verborgene, das Rätselhafte, aber auch das letztlich Nicht-Wissen ist strukturiert wie die Sprache“.
Weiterführende Fragen schließen sich an. Was für eine Gesellschaft steht zur Disposition? Ist sie selbst als krank oder gesund zu betrachten? Und wenn, unter welchen Vorannahmen? Sind Krankheiten immer auch Zeitkrankheiten? Ist es unter diesen Fragestellungen nicht näher liegend, statt von Krankheitsbegriffen von menschlichen Daseinsweisen zu sprechen?
Rosemarie Henzler (Zens), in: Krankheit und Medizin im literarischen Text, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 1989