Dioramen und andere theatralische Inszenierungen      PDF ↓

Mit den Augen der Kinder sehen – Zum Künstlerbuch Carousel of Time

 

Kinder können ihr Erleben auf elementare Weise zum Ausdruck bringen, wenn sie als Hauptdarsteller von Geschichten szenisch-theatralischer Situationen auftreten. Dann erscheinen sie wie selbstvergessen, in einer Art von Bei-Sich- oder Außer-Sich-Sein, als ob sie im Austausch mit den Natur- und artifiziellen Welten intuitiv sich selbst bestimmen. Oft beobachten wir ihre Vorliebe, sich hinter oder zwischen den Dingen zu verstecken, um sich zu sammeln und die Zwischenräume der verschiedenen Erscheinungen des Unsichtbaren und Sichtbaren zu erkunden.

Wie die Kinder auf den Bildern im Künstlerbuch Carousel of Time, so das Mädchen mit der selbstgebastelten Maske oder der Junge als Höhlenforscher, die den Betrachter wie beiläufig außen vorlassen, kann dieser in Erinnerung an das eigene Kindsein Zustände der Versunkenheit wahrnehmen, Gefühle von Vereinzelung oder Verlorenheit erleben bis zum Ausgleich durch die Eroberung von Raum und Zeit mithilfe von Bewegung, Spiel und Geschichtenerfinden.

Eine eigene spielerisch-surreale Fantasiewelt ist auf den zwischen 2011 – 2013 entstandenen Fotografien zu sehen. Kinder und Tiere an Orten wie in Aquarien, Zoos und Stadtlandschaften und Tiere ausgestellt als Artefakte in Dioramen wie im New Yorker American Museum of Natural History stehen nebeneinander.

Durch Bildausschnitt und Rahmung werden die Kombinationen der Fotografien zur eigenen Schaubühne im Buch. Mit den Augen der Kinder sehen, heißt konfrontiert mit dem Großen und dem Kleinen neugierig, staunend und verwirrt auf die Welt der Bilder schauen wie sie, wenn wir unseren Blick gleichsam auf die Bilder dieser Bilder lenken.

Dem unheimlich „Lebendigen“ der Dioramen, ihren in naturalistischen Landschaftskulissen gestellten ausgestopften Tieren begegnen wir auf Einzel- und Doppelseiten. Die erzählerischen Elemente mildern und bändigen diese zwiespältigen Erscheinungen. Geradeso wie der auf einer der linken Buchseiten abgebildete und durch den Ausschnitt noch überdimensionaler wirkende große Bär. Die fünf Krallen seiner Tatzen ziehen unseren Blick auf sich und werden im folgenden Bild konterkariert im fliegenden Haar des barfüßigen Mädchens, das vor in der Ferne stehender Kinder am Meer mit den Zehen ihre eigenen Spuren in den Sand schreibt. Die Szene­ einer roman­ti­sier­t eisigen Berglandschaft, vor der der Bär platziert ist, wird auf dem Bild der rechten Buchseite weitergereicht an die Szene am Meer und verwandelt sich im Nebeneinander der Bilder zu einem Gesamteindruck, der im Gegenlicht wiederum auf das jeweils andere Bild verweist.

Dieses Geflecht von Wiederholungen, Überlagerungen und Verschränkungen von Formen und Objekten scheint ebenfalls in einer anderen szenischen Geste auf, in der ausschnitthaft vergrößerte und geschwungene Vogelhälse neben dem gebeugt ausgestreckten Arm und der offenen Kinderhand eines Jungen zu sehen sind; einer Kinderhand, die im vorsichtigen Auffangen eines winzigen Käfers diesen vor dem Ertrinken zu retten versucht.

Ein weiteres Element dieses inszenierten Sehens fügt sich durch das Aufblättern mehrerer halb aufgeschnittener Buchseiten, die wechsel- und wahlweise zusätzliche Bildkompositionen ermöglichen. Und dies in Kombination mit Bildunterschriften von Zeilen aus Lou Reeds Songtext Hang on to Your Emotions. Unsere Augen wandern von einem Details zum anderen, suchen sich einzulassen auf das Doppelbödige des Abgebildeten, auf Durchblicke in Räume und Spiegelungen von Phänomenen, bewusst losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext und in andere Zusammenhänge gestellt.

So wie Wirklichkeit und Täuschung, Authentizität und Scheinrealität Charakteristiken der Dioramen sind, gehören diese wesentlich auch zum Medium der Fotografie selbst mit seinen optischen und mimetischen Mitteln, den Bildausschnitten und Bildkombinationen. Und vielleicht ist vor allem Kindern ein fotografischer Blick naturgegeben, mit dem sie sich  ausschnitthaft die Welt zu eigen machen und für sich selbst zusammensetzen. Vielleicht bringen, wenn wir versuchen mit den Augen der Kinder zu sehen, diese vermeintlich zufälligen Ausschnitte der Wirklichkeit die wahren Bilder hervor.

 

 

© Rosemarie Zens, Artist Book, Berlin 2013