EIN SPIEL MIT DER ZEIT UND EIN SPIEGEL UNSERER SELBST   PDF ↓
Bildsprachen zwischen Erinnerung, Archiv und Algorithmen

 

DER AUGENBLICK UND DIE DINGE

Um die Verflechtung von Geschichte und Biografie geht es in meinen künstlerischen Arbeiten und darum, welche Bedeutung Bilder dabei für unser Selbstverständnis haben. Diese Themen basieren auf meinem Studien der Geschichte, Literatur und Psychoanalyse, sowie der Fotografie. Die Erkenntnis, dass wir nicht anders können, als in Bildern zu leben und zu denken, – diese anthropologische Grundannahme -, ist für mich über die Jahre immer sichtbarer geworden.

Durch Bilder begegnen wir der Neugier nach Unerwartetem und folgen – auf der Suche nach unserem Platz in der Welt – dem Wunsch nach existenzieller Vergewisserung. Durch Bilder entwickeln wir Vorstellungs- und Urteilsvermögen. Wir verwenden sie, um Szenarien nachzuspielen, wie in unseren Träumen und Reflexionen. Und im besten Fall – angesichts der allgegenwärtigen Bilderflut und der synthetischen Bilderzeugung mittels der künstlichen Intelligenz – lernen wir durch sie, die Authentizität der Bilder selbst und unsere Position in der Welt einzuschätzen.

Unter all den Künsten nehmen für mich Dichtung und Fotografie zentrale Rollen ein. Denn unserer punktuellen Wahrnehmung der äußeren Welt und unserem bruchstückhaften Gedächtnis gegenüber den inneren Welten entspricht in genialer Weise die Technik der Fotografie, das Lebendige in Momenten festzuhalten und Emotionen zu verdichten. Von Anfang an begleitet mich die poetische Sprache in Dichtung und Fotografie, die Räume eröffnet für unsere Vorstellungskraft durch Metaphern, Mythen und Legenden wie durch Rhythmus und Klang.

Wenn ich hier von Bildern spreche, meine ich das in einem Literatur und Fotografie übergreifenden Sinn. Beide Ausdrucksformen werden als Parallelwelten in ihrem jeweils eigenen Recht begriffen, die sich nicht vermischen, die sich aber berühren können: die Fotografien, generiert durch bildgebende Verfahren ebenso wie die Lyrik, Prosa und Essays mit all ihren rhetorischen Figuren und stilistischen Formen.

 

WAS VOM VERLORENEM BLEIBT IST DAS BILD

Insbesondere drei meiner fotografischen Arbeiten und Essays verorten Erfahrungen eingebettet jeweils in das historische Umfeld. Sie folgen der Erkenntnis, dass wir uns ständig eine Geschichte erzählen, um unsere eigene Geschichte zu leben.
In „Journeying 66“ geht es um die Aufbruchsstimmung der Jugend in den späten sechziger Jahren im Spiegel einer Rückkehr nach über vierzig Jahren zu eben dieser Route 66 mit der Frage, inwieweit Emotionen abrufbar in Bildern zeitlos sein können, unabhängig von inzwischen gemachten Erfahrungen.

„The Sea Remembers“ beschäftigt sich mit Herkunft und Kindheit ausgehend von den letzten Monaten des zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland und erkundet, wie Gedächtnis und Erinnerung Sinnzusammenhänge nicht nur konstruieren, sondern durch künstlerische Formen auch stiften.

Die dritte Arbeit „Moon Rabbit“ rückt gesellschaftspolitische Bedingungen und existentielle Anliegen in den Vordergrund. Sie zeigt, wie in den letzten Jahrzehnten in China, orientiert an der westlichen Lebenswelt und verstärkt durch ein zunehmend politisch-autokratisches System homogenisierende Kräfte wie Wissenschaft, Technologie und der globale Markt das individuelle Leben beeinflussen. Im Spiegel dieser Ansichten und Dynamiken werfen die prekären Entwicklungen im modernen China, von denen die Bilder zeugen, die Frage auf, wie wir unsere eigene Welt gestalten wollen. Während bei den Bildern im Duktus ruhig komponierter Aufnahmen, die sich auf das Wesentliche konzentrieren, noch Spuren zu finden sind von der Spiritualität und Weisheit altchinesischer Kultur.

Der Forschungs- und Entwicklungsprozess, um diese Werke zu veröffentlichen, sei es in Ausstellungen oder in Buchform, erstreckte sich über mehrere Jahre. Dem Prozess lag ein Weltverständnis zugrunde, das seit jeher ein gemeinsames, ein bildmächtig kulturell geteiltes ist. Einem Verständnis, von der Auffassung geleitet, dass Zukunft ohne Vergangenheit nicht erfahr- und vorstellbar ist. Dies gilt umso mehr angesichts unserer heute sofort abrufbaren Archive und einer durch Algorithmen sich ausbreitenden Gegenwart. Wie könnte es auch anders sein, als dass das Lebendige sich darin zeigt, dass die Zukunft modifizierte von außen wiederkehrende Erinnerung zunächst jedes Einzelnen ist.

 

DIE VIELZAHL VON STIMMEN

Meine Künstlerbücher wie „Carousel of Time“, das Kinderwelten mit Tier-Diorama Bildern zusammenführt, oder ‚As the Eye Wanders‘, das Bildabfolgen thematisiert, entstanden wie auch die Gedicht- und Hörbücher z.B. ‚Als gingen wir vorüber‘, ‚Vom Gesetz der Währung‘ und ‚Siliziumherz‘ an historischen Orten und im unmittelbaren Umfeld. Mit der Zeit begannen die Bilder sich in die Wirklichkeit von Erinnerungen eigener und archetypischen Welten zu verwandeln, während die Betrachtung sich auf die Bilder selbst und ihren Beziehungen untereinander konzentrierte.

Zugleich begann ich meine fotografischen Sammlungen und meine verstreuten Gedichte und lyrische Prosa in Bänden und Anthologien aus verschiedenen Zeiten zu sichten. Es forderte mich geradezu heraus, einen Zusammenhang zu finden, der unter den Bildern selbst entstanden sein könnte. Denn es war, als hätten sie sich verselbständigt und ich fragte mich, was sie mit mir zu tun haben, so als müsste ich sie mir selbst wieder ins Gedächtnis zurückholen und neu aneignen.

Dabei erschienen die einzelnen Fotografien und die Gedicht- und Prosazeilen wie eine Vielzahl von Stimmen in einer vermehrt komplexen Welt. In einer Welt jedoch, in der jedes einzelne Bild seinen eigenen Status bewahrt, indem es seine Essenz daraus bezieht, wie es in seiner verdichteten Form Teil eines größeren Ganzen geworden ist.

 

DIE VERWANDLUNG VON ZEIT IN RHYTHMUS

Bis heute bewegt mich die Frage, wie Bilder durch Bilder Resonanz finden und wie zwischen zwei Formen, wie Wahrnehmung und Erinnerung, Innen und Außen, Geschichte und Biografie Zeit in Rhythmus sich verwandelt. Immerhin ermöglicht zum einen das Auge, also eines unserer Sinne, das Sehen als eine Form des Tastens, das den Raum durchmisst, Überraschendes und Disparates in neue Narrative und Sichtweisen zu überführen. Zum anderen können Wort und Stimme beim Hören von Gedichten und Prosa vor dem inneren Auge bildhafte Kompositionen erzeugen, wenn in Widerspruch und Zustimmung Klänge zu Worten werden und Worte zu Tönen.

Das Rätsel der Sichtbarkeit selbst aber, das in Dichtung, Fotografie und allen anderen Künsten in Ausschnitten, Collagen, Montagen und diversen Stilmitteln wie eine Art Palimpsest innerer und äußerer Wahrnehmungen aufscheint, wird in Bildern nicht gelöst, sondern verdoppelt: als ein Spiel mit der Zeit und ein Spiegel unserer selbst. In diesem Sinn bin ich selbst ein zweites Mal zum Beobachter/ Betrachter, zum Schreiber/ Leser, zum Stimmgeber/ Zuhörer geworden, wie jeder andere auch mit seinen eigenen Assoziationen und Vorstellungen. Das Gute an künstlerischen Werken ist, dass sie ein begrenzt offenes Ende haben.

 

©Rosemarie Zens, Berlin 2022
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