Glückliche Reise – Aus dem Logbuch                PDF

 

I
Es hätte durch die spanische Sierra in der Fieberglut des Hochsommers sein können, auf den Straßen Irlands im Bus, an der polnischen Küste entlang oder in der Lüneburger Heide zu Fuß. Und dann doch wieder in keiner anderen Landschaft als gerade in diesen.
Wir gehen auf Reisen, um nie anzukommen. In der Hoffnung, aus dem eigenen Mondkreis herauszutreten und mit dem Radius der Bewegung unser Vergessen zurückzugewinnen.
Als gäbe es das: tabula rasa, auf der nichts zu verzehren, nichts hinter sich zu lassen wäre.
Und gleichviel ist auch wahr und seit Odysseus uns deutlich überliefert: der Sinn der Reise ist die Rückkehr.

Glücklich, unterwegs festzustellen, doch nicht der Abenteurer, der Nörgler, Ausgeschlossene und Erkrankte zu sein. Auch nicht der Bauer, Handwerker, König. Der Reiche oder der Arme.

Wie sind wir aber auf der Reise und wo? Beim Sommerkonzert, auf dem die auf der Bühne errichteten Roadies mit dem Surroundsound nicht ausreichen für eine Antwort. In der Nacht, in der das bessere Licht allemal das gefilterte ist. Von der Bilderflut. Von Gemeinplätzen wie: Du bist anders, du brauchst keinen Spiegel. Unser Zugang zum Schattenwesen: „Is there anybody out there?“

 

II
Aufgeblättert und buchstäblich wahr sind von früh an die nächtlichen Gesichte, letztendlich lebenslänglich auf über zwanzig bis dreißigtausend Seiten wahrgenommen und systematisch protokolliert. Ob wir wollen oder nicht. Es gibt kein Sich Zurückziehen in oder aus der angeblich scheinbaren Welt des Traums. Auch nicht am Tage des Siebenschläfers oder durch ein Feueropfer. Identität und Authentizität hin oder her. Denn während der Traumreisen bei Tag oder Nacht verwandeln wir uns in die Übersetzer und Wächter unserer eigenen Wahrheiten. Voraussetzung zu sein ist bewegt zu werden und sich bewegen zu lassen.

Wenn alles Exil ist, wo ist dann unser Zuhause? Im Vogelbeerbaum? Am Strand der Ostsee? In der Bronx an Wintertagen? Vom Geisterglauben niemals völlig geheilt, sollen wir uns ab sofort den Heiligen zuwenden. Der Antworten wegen. Sonderbar. In den verrotteten Dschungeln der Metropolen und den gottverlassenen ausgetrockneten Gegenden verbrannter Erde, den reinen Höllen um uns sind wir umgeben von unseren eigenen Schreckensbildern. Der schwarze Kontinent an der anderen Küste gegenüber Europa.

 

III
Wem das zuviel ist, dem nützt auch der Abgesang nichts. Auf das „Ende des Reisens“ – „Adieu sauvages adieu voyages“. Anähneln, Ergriffenheit, neue Völkerwanderungen? Dem Anderen in uns und den Anderen eine genuine Stimme verleihen? Abgelesen von den uns begegnenden Gesichtern. Wohin richten sich unsere eigenen Stimmen?

Auch wenn wir uns bewegt fühlen, dem Gestus der Mimesis zu folgen, können wir diese nicht im Sinn einer bloßen Nachahmung finden. In Anverwandlung schon eher, als Simulation zunächst vielleicht, dann über diese hinaus. Durch Herstellung entsprechender Formen, die Distanz erzeugen. Mit denen wir im Einklang sind. To be in tune with. Hier könnten wir uns selbst als Kolonie besetzen! Um den Zusammenhalt im Zeichen des Erlebten zu gewährleisten. Risiken und Strapazen eingeschlossen. Nervenkitzel und Neugier.

Dies jedoch ohne ein Reisejunkee zu werden, der im Vorlauf schneller und weiter gelangen will mit der Umsetzung der Sehnsucht nach dem richtigen Leben. Hyperaktiv von event zu event. Im Erlebnispark Erholung durch Animation.

Dann lieber im transitorischen Status des Ankommens und Abschiednehmens bleiben. Das Wahrnehmen eines Provisoriums, in dem Vergängliches wirklich vergänglich ist. Meinetwegen. Das Notieren und Einschreiben ins Gedächtnis. Die Vergewisserung, wo gab es eine Stimme, die meiner in nichts glich?

 

IV
Die Herausforderung: das fünfte Element zu finden, den Ort, an dem noch niemand gewesen ist. Und an dem der fremde Blick nicht Folge einer fremden Umgebung ist, vielmehr ganz und gar dem ver-rückenden Umgang mit dem Vertrauten entstammt. Vor Glück und aus Verzweiflung. Um die Grenze zum Schweigen, Nichtsagbaren nicht immer wieder hinauszuschieben.

Die Herausforderung, den Ort zu finden, an dem auf unheimliche Weise Zeit und Raum zu versickern scheinen und der Blick vollkommen intim ist. An dem mit der mytho-poietischen Grenzüberschreitung das romantische Pathos seinen Glauben verliert.
Denn um die eigenen Mythen drehen sich Bauch, Kopf und Herz. Manchmal als antagonistisch gespaltene Gesellschaft mit sich selbst. Einer Reise gleich, bei der das Ziel in Sicht, aber nie erreicht wird. Ein gefährliches Abenteuer der besonderen Art, wenn ein Eindringen in das eigene Territorium eine Selbstheiligung nach sich zieht. Wenn Abgründe und Ideale zuzudecken dies als notwendig erscheinen lassen. Dennoch ist dies kein Grund, im Netzwerk der Systeme so zu tun, als gäbe es die Person nicht mehr.
Das Subjekt als Unterworfenes: cyber-schuld, wenn wir uns binär, dual, digital, reaktionär zu unterwerfen trachten. Eine tiefe depressive Grundstimmung führte uns dann vielleicht dazu, das eigene Selbstwertgefühl in den Blick zu nehmen. Und den ‚access’ zum Cyberspace als einer zweiten Weltsphäre über der „Mutter Erde“ nicht zum absoluten Orientierungspunkt zu wählen.

Wo befinden wir uns auf der Reise und wie? Als Europäer haben wir von jeher die Vorstellung, das tiefste Geheimnis, die Wahrheit von Urzeiten an liege irgendwo dort draußen, an einem exotischen Ort. Immer auf der Suche nach der verlorenen Unschuld unserer eigenen Zivilisation. Die Faszination für das Andere trägt die Widersprüchlichkeit in sich. Es bleibt ein komplementäres Wechselverhältnis auf dem Fluss der Zeit in einer Art Fließgleichgewicht. Gerade wenn zunächst der berechtigte Wunsch auftaucht, der Andere möge fremd bleiben. Das Bemühen um eine gelebte Toleranz dem Anderen gegenüber umschreibt die Achse um die sich die eigenen Wahrheiten drehen. Dieses Rad in Bewegung zu halten nehmen wir uns vor. Bis an die Grenzen des eigenen Dorfes, zu Wasser und zu Lande auf dem kürzesten Weg zu uns selbst: einmal um die Welt herum.

Check in! Before the tourists come. Gerade wenn wir in der Mittagsglut der Zeitdehnung gegen die dumpfe Leere der Langeweile ankämpfen! Nicht jede Reise geschieht vornehmlich im Kopf. Statt Liebesromane zu lesen, zu rauchen und den aufgebauschten Cumuli nachzuschauen den ganzen Körper in Bewegung setzen! Als Rettung vor dem existentiellen Abgrund des Zeitbannes. Aufbruch als eine Art Befreiung zu uns selbst. In die Wildnis, ins Chaos. Beim Suchen nach dem gestohlenen Koffer oder dem verlorenen Pass. Im Zustand praktischer Konfusion. Der Klarheit wegen. Auch wenn Seneca wiederum davon abrät, weil der Reisende stets den schlimmsten Begleiter mit sich nimmt: sich selbst.

 

V
Was kann schon passieren, wenn Auge und Ohr etwas als Äußeres wahrnehmen, das von innen kommt? Bei der Wanderung zwischen den Dingen und der Wahrnehmung. Auch in der Hoffnung, das Fremde und die Natur zu befreien von Stereotypen und Klischees. Ohne dabei im Postkartenblick am ständigen Kampf gegen die Anziehung und Vereinnahmung durch das völlig Fremde zu ermüden.

Die Trägheit der Angst. Beim Hinabsteigen in den Krater des erkalteten Vulkans gelingt es vielleicht eher, die Schlacht- und Katastrophenstimmung abzuleiten. Oder bei einem Besuch auf den Friedhöfen und bei den Gräbern berühmter Persönlichkeiten. Das Gedächtnis an die Toten ist uns heilig. Denn wir wollen leben. Keine Erinnerungen, keine Wünsche! Im Endeffekt wollen wir doch glücklich sein!

Auch ohne die letzte Reise aus Liebe zu den Sternen zu planen und die Asche in den Orbit zu schicken. Es sei denn, wir wollten das ultimative Ende: sich verschlucken zu lassen ins Nichts. Oder eine Reise für eine Urne zu buchen, um jenseits der irdischen Schwerkraft als unverglühter Funkenstreif am Jupiter vorbei uns aus unserem Sonnensystem katapultieren zu lassen. Ewig unbestattet fliegen! Flaschenpost mit Partikeln von DNA als Code der Zukunftshoffnung. Im Crashkurs an der Weltgeschichte vorbei. Gerade noch rechtzeitig während eines neuen Metasystem-Übergangs, bei dem die Grenzen zwischen toter und belebter Materie sich verwischen.

Wie also sind wir auf der Reise und wo? Auf dem ewigen Weg in die Zukunft und ins Unbekannte. Wo halte ich mich unterwegs auf und wie ist meine Befindlichkeit? Sind die Modi Bewegen, Bewegt werden und Sich bewegen lassen miteinander verbunden, werden die Zusammenhänge erst durch die ganz reale und analoge Begrenzung frei. Denn eines ist klar geworden: unsere Lebensbedingungen sind irdisch, unser Himmel ist geozentrisch: Sonne, Mond und Sterne, wie wir sie von hier aus sehen. Die Rückkehr? Sie liegt in der Erinnerung an diesen Weltbegriff: solcherart geerdet zu sein.

 

In: Rosemarie Zens, Essay in: Aus dem Logbuch, Gedichte, Witzenhausen 2000, S. 7 – 13