Mit sechsundsechzig Jahren

Manchmal braucht es einen Grund für eine Reise, einen Anstoß, einen ganz kleine nur, wie damals, als Rosemarie Zens, zum ersten Mal die Route 66 abfuhr, damals: im Jahr 1966. Das war als Idee fast zu naheliegend. Aber es war ja auch die Zeit. Die Umbruchzeit der Aufbruchsstimmung, geprägt von dem unbedingten Glauben, wie Rosemarie Zens nun schreibt, dass alles möglich sei. „Die individualisierten Formen von Protest, Widerstand und Emanzipation.“ Ihr Reistagebuch, in das sie derlei Gedanken und Vokabeln notierte, hat sie noch immer – und während sie darin blättert und liest und über die Texte von Country-Stücken und Rocksongs schaut, die sie damals an den Rand gekritzelt hat, diese Programme der „politischen, sexuellen und spirituellen Befreiung“, wie sie es nennt, kommt ihr eine neue Idee, für ein Experiment, „durch Erinnern/Wiederholen/Reisen anzuknüpfen an das Lebensgefühl der 1960er Jahre“. Sie wird noch einmal fahren. Noch einmal Amerika durchqueren auf dieser mythenträchtigsten aller Straßen. Und unterwegs wird sie Geburtstag feiern. Ihren sechsundsechzigsten. Zahlenspiele sind wunderbar. Und als Argument bisweilen unschlagbar.

Rosemarie Zens ist Lyrikerin. „Als gingen wir vorüber“, heißt einer ihrer Bände mit Gedichten. Und nun, da Rosemarie Zens auch fotografiert hat, fast nur fotografiert hat für ihren Bildband „Journeying 66“, und viel zu wenig geschrieben, da wäre das auch ein schöner Titel für die Bilderfolgen gewesen, denn darum geht es – ums Vorübergehen. Und eben nicht ums Vorbeifahren, auch wenn dann und wann der Rahmen der Fahrertür oder die Reflexion im Seitenspiegel zu sehen sind. Oder wenn sie vom Flow spricht, während der Fahrt, dem Rausch, der Entgrenzung. „Die Straße“, schreibt sie, „das bin ich.“ Das klingt schon fast nach Walt Whitman.

Rosemarie Zens blickt nicht nostalgisch auf die Motels und Läden und Tankstellen entlang der Landstraße, nicht verklärt auf chromblitzende Sportwagen und Motorräder. Was sie zeigt, sind Orte, in denen die Zeit sich nicht mehr bewegt. Der Mobilitätsgedanke, das Heilsversprechen Amerikas, schimmert vor allem durch die Abwesenheit von Menschen durch ihre Motive. Hier die staubtrockene Wüste, da die Schlucht des Gran Canyon und dort eine verbrannte Bude am Straßenrand – Ruine seit immer. „Save Main Street“ steht auf der Wand eines heruntergekommenen Theaters im Nirgendwo – und: „If we built it, they will come.“ Aber jene, die kommen, gehen doch wieder nur vorüber.

Freddy Langer, FAZ 14.3.2013