Rosemarie Zens
Gesundheit und Krankheit – Begriffe im Wandel der Zeit

In: Heilkunde versus Medizin? Gesundheit und Krankheit aus der Sicht der Wissenschaften. Hippokrates Verlag Stuttgart 1993
ISBN 3-7773-1098-0

Aus dem Vorwort zum Buch:

Gesundheit und Krankheit beschreiben die Eckwerte der Medizin; sie bilden die Grundpfeiler jeglichen therapeutischen Handelns. Art und Ausmaß medizinischer Eingriffe, therapeutischer Empfehlungen und Normen: alles richtet sich danach, was jeweils unter »gesund« und »krank« verstanden wird. Dies ist jedoch in unserer Zeit keineswegs klar und selbstverständlich.

Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen nähert sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven (Medizingeschichte, Psychologie, Klinische Medizin, Physiologie. Wissenschaftstheorie) im Spannungsfeld zwischen Naturheilkunde und Hochschulmedizin, in dem besonders deutlich wird, wie schwierig heute die Begriffe Gesundheit und Krankheit zu bestimmen sind. Als Grundtenor ergibt sich die Forderung, das immer noch vorherrschende linear-kausale Denken der naturwissenschaftlich-fundierten Hochschulmedizin zugunsten eines systemisch-vernetzten Verständnisses zu verlassen. Der Spannungsbogen möglicher Denkmodelle reicht von der daseinsanalytischen Psychotherapie bis zur Semiotik.

Bei Rosemarie Zens ist die Wirklichkeit von Gesundheit und Krankheit ein vielschichtiges Gewebe aus psychischen, somatischen, geistigen, sozialen und spirituellen Dimensionen menschlicher Existenz. Gesundheit und Krankheit implizieren „Gradunterschiede und Arten des Daseins“. Die jeweiligen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit sind nicht zu lösen von zeitgebundenen Normen und Werten. Seit der Aufklärung gibt es nun das Bemühen um einen immer umfassenderen Gesundheitsbegriff, begleitet von einengenden Sichtweisen und Ideologiebildungen. Gleichzeitig sind die unterschiedlichsten Weltbilder in Betracht zu ziehen. So überdauern magische Vorstellungen (z.B. Krankheit als Strafe) bis heute. In der Antike gab es ein existentielles Verständnis von Krankheit als Störung der Harmonie des Menschen mit sich selbst. Mit der Aufklärung wird Krankheit als objektivierbare, in den Griff zu bekommende Größe gesehen. Die Frage nach ihrem Wesen, vor allem, ob sie verbunden ist mit Gelingen oder Scheitern menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten, gerät in den Hintergrund. Gleichzeitig bekommt Gesundheit die Bedeutung von Funktionalität, bürgerlicher Tüchtigkeit und Erfolg. Sie wird zur obersten sozialen Norm, wobei Krankheit in den Normenstrukturen nicht vorgesehen ist. Insgesamt unterwirft sich die Medizin einseitig den Naturwissenschaften; als Ausdruck des methodischen Reduktionismus treten Diagnose und Analyse in den Vordergrund. So kommt es zum Bruch mit der Tradition. Aus methodischen Gründen kehrt die naturwissenschaftliche Medizin das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit um und kennt nur noch Krankheiten. Gesundheit wird zu einem unverständlichen Begriff.
In diesen Sog gerät auch die Seelenforschung, sie wird in den naturwissenschaftlichen Rahmen eingegliedert. Der übergreifende Blick z.B. auf die gesundheitsfördernden Bedingungen menschlichen Lebens geht verloren, und das Denken in Gegensätzen wie ,,Krankheit oder Vernunft“, „Wahnsinn oder Aufklärung“ dominiert. Selbst die heutige Psychosomatik ist im Dualismus gefangen. Es ist die Frage, ob es unserem Denken überhaupt möglich ist, über die dichotome Sichtweise „gesund/krank“ hinauszukommen. Dies gelingt wohl eher der daseinsanalytischen Psychotherapie, die in ihrer phänomenologischen Betrachtungsweise zum Beispiel zu der Frage zurückführt, ob Krankheiten auch eine ontologische Funktion haben.

Dr. rer. nat. Henning Albrecht, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft